28.03.2014 | IREHA | Klinikprojekte
Rolle des Pflegepersonals bei Patientinnen und Patienten mit Angststörungen in der stationären psychosomatischen Rehabilitation




In der psychosomatischen Rehabilitation kommt der Behandlung von Angsterkrankungen ein hoher Stellenwert zu, da Ängste nicht nur bei Patienten, die bereits mit der Zuweisungsdiagnose einer Angststörung in die Klinik kommen, auftreten, sondern auch bei Patienten, bei denen Angstzustände im Sinne einer Komorbidität bestehen.
Der Begriff „Angststörung“ ist ein Sammelbegriff für psychische Störungen, bei denen entweder unspezifische Angst oder aber konkrete Furcht (Phobie) vor einem Objekt bzw. einer Situation besteht. Man unterscheidet phobische Störungen von anderen Angststörungen, darunter Panikstörungen und generalisierte Angststörungen (GAS) sowie eine kombinierte Angststörung und Depression mit ausgewogenen Symptomen beider Erkrankungen.
Häufige Symptome sind:
- Man macht sich Gedanken über reelle Sorgen, z. B. Unfälle, aber überschätzt ihre Wahrscheinlichkeit und malt sich katastrophale Folgen aus.
- Der Alltag wird zunehmend bestimmt durch Vermeidungs- und Absicherungsverhalten (z. B. Anrufe bei den Kindern oder dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin, ob alles noch in Ordnung ist).
- Als gefährlich eingeschätzte Unternehmungen werden aufgeschoben, auch wenn das zu Konflikten mit Familie, Freunden oder Arbeitskollegen führt.
- Bei Panikattacken handelt es sich um ein Panikgefühl mit Herzklopfen, Schwitzen, Kurzatmigkeit, Erstickungsgefühlen, Schwindel oder anderen somatischen Reaktionen.
- Bei phobischen Störungen werden Ängste auf ungefährliche Objekte oder Situationen fixiert. Wenn die Vermeidung nicht gelingt, können somatische Angstreaktionen, Panik oder Erschrecken auftreten.
Im Kontext der stationären Behandlung von Angststörungen kommt es von Zeit zu Zeit vor, dass Patienten ihre Angstsymptome unerwartet erleben. Diese Situation tritt auch in der Nacht auf. In diesem Augenblick sind die Gesundheits- und Krankenpfleger im Dienst oft die allerersten Ansprechpartner. Auch kommt es vor, dass sich Patienten beim Pflegedienst melden, wenn mit der Angst verbundene, starke vegetative Reaktionen auftreten, ohne dass diese als Angst benannt werden können. Zwei Beispiele aus dem Nachtdienst veranschaulichen die Problematik. Zunächst sollte man sich in Erinnerung rufen, dass die Patientinnen und Patienten die Nacht anders als den Tag wahrnehmen. Es ist dunkel und still, Alltagsgeräusche sind nicht zu hören. Es gibt weniger Personal als tagsüber, wenige Leute im Gang und wenig Bewegung in der Klinik. Auch die Gerüche sind anders. In einer Nacht meldete sich eine Patientin mit einer Panikattacke. Ihre Symptomatik war vorwiegend somatisch. Der Blutdruck war hoch (220/120), sodass die Gefahr eines Schlaganfalls oder Herzinfarktes bestand. Die Patientin zitterte, war sehr unruhig, hatte eine blasse Hautfarbe und einen panischen Blick. In einem anderen Fall kam ein Patient mit Verhaltenssymptomatik. Er verspürte Symptome einer Klaustrophobie, konnte sich nirgendwo innerhalb der Klinik aufhalten, lief ständig auf und ab und gestikulierte stark mit den Händen. Auch er hatte einen panischen Blick und zitterte. Dieser Patient hatte aber eher ein gerötetes Gesicht.
Die Nachtschwester reagierte auf die Patientin mit der somatischen Symptomatik, indem sie sich mit ihr im Flur, also an einem neutralen Ort, hinsetzte. Sie redete beruhigend auf die Patientin ein und versuchte, sie in ein ablenkendes Gespräch zu verwickeln. Themen waren dabei der Tag in der Klinik, der bisherige Aufenthalt, die Situation zu Hause und ähnliches. Blutdruck- und Pulskontrollen erfolgten mehrmals.
Der Patient mit Klaustrophobie hatte in der Nacht von seinem Zimmer aus die Nachtschwester angerufen. Diese bat ihn, ins Schwesternzimmer zu kommen, merkte aber bald, dass er nicht in der Klinik bleiben konnte. Sie ging mit ihm nach draußen, um mit ihm im Freien auf dem Klinikgelände spazieren zu gehen. Nach einer Weile konnte sie beruhigend auf ihn einreden.
Beide Patienten konnten mit der Handlungsweise gut beruhigt werden. In beiden Fällen wurde die Krisenintervention dokumentiert und der Tagdienst sowie der Stationsarzt informiert.
Um Erfahrungen mit mehreren derartigen Beispielen zu sammeln und in diesen Situationen eine angemessene und sichere Reaktion gewährleisten zu können, entstand der Wunsch, entsprechende Handlungsstrategien zu erarbeiten. Es bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, die sich dieser Aufgabe unter Hinzuziehung zweier Psychotherapeuten widmete. Die Ergebnisse flossen in einen neuen Pflegestandard ein (1).
Pflegestandards definieren das erwartete Verhalten oder den richtigen Arbeitsverlauf des Personals bei typischen oder besonders wichtigen Aufgaben. Es geht nicht darum, die Arbeit zu automatisieren, sondern um die Schaffung eines einheitlichen, standardisierten Vorgehens, in dem alle Mitarbeiter des Teams geschult sind und das auch im Rahmen der Einarbeitung neuer Mitarbeiter oder Auszubildender als Grundlage zur Verfügung steht.
Pflegestandards wurden zunächst für die somatische Pflege entwickelt. Erst später wurden sie auch in der psychiatrischen Pflege eingesetzt. In der psychosomatischen Rehabilitation sind sie eher selten (Benninghoven et al. 2004). Der Grund für die Verzögerung liegt wohl in den außergewöhnlich anspruchsvollen und komplexen Aufgaben des Pflegedienstes in der Psychosomatik. Hier stehen die Gesundheits- und Krankenpfleger den Patienten vor allem als Gesprächspartner zur Verfügung. „In den Gesprächskontakten geht es um die Förderung der Wahrnehmung von Gefühlen und um das Erkennen von Zusammenhängen zwischen körperlichen Beschwerden und seelischem Befinden“ (Bergers 2008, S. 228). Das Pflegepersonal schafft eine vertraute Atmosphäre in der Klinik durch seine Bereitschaft, „Sorgen, irritierende Gedanken und Konflikte aufzunehmen und im ‚Hier und Jetzt‘ mit dem Patienten zu bearbeiten“ (Ibid.). Diese Emotionsarbeit der Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger unterstützt auch das therapeutische Setting.
Diese stets individuelle Arbeit lässt sich durch Pflegestandards schwer definieren. Jedoch fand die Arbeitsgruppe der Berolina Klinik, dass sich aus den kollektiven Erfahrungen des Pflegedienstes durchaus gute allgemeine Regeln abstrahieren ließen. Die Erfahrungen des Pflegepersonals der Berolina Klinik mit Patienten in besonderen Belastungssituationen konnten im neuen Pflegestandard „Vorgehen im Rahmen supportiver Patientengespräche“ in folgenden knappen Grundsatzregeln zusammengefasst werden.
Grundsätzlich gilt für alle Situationen:
- den Patienten ernst nehmen;
- den Patienten annehmen;
- beruhigend einwirken;
- eigene emotionale Selbstfürsorge (Pflegepersonal) gewährleisten.
Darüber hinaus beschreibt der Pflegestandard für alle häufig auftretenden Belastungssituationen stichpunktartig die wichtigsten Symptome/Zustände einerseits und die gebotenen Reaktionen des Pflegedienstes andererseits. Für Panikattacken siehe Tabelle 1.
(1) Gruppenmitglieder waren Roswitha Rabe, Monika Zurheide, Petra Schünemann, Ulrich Witscher, Arne Sörensen und Gordana Milutinovic
Literatur
Bandelow B, Boerner RJ, Kasper S, Linden M, Wittchen HU, Möller HJ. Generalisierte Angststörung: Diagnostik und Therapie. Dtsch Arztebl 2013; 110 (17): 300–10. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0300.
Benninghoven D, Knödler R, Gielis A, Kunzendorf S, Jantschek I, Jantschek G. Pflegeziele in der psychosomatischen Akutbehandlung – Eine empirische Annäherung. Psychother Psych Med. 2004; 54: 9-16.
Bergers K (2008). Gesundheits- und Krankenpflege. In G. Schmid-Ott, S. Wiegand-Grefe, C. Jacobi, G. Paar, R. Meermann & F. Lamprecht (Hrsg.), Rehabilitation in der Psychosomatik - Versorgungsstrukturen, Behandlungsangebote, Qualitätsmanagement. Stuttgart: Schattauer Verlag, S. 227-229.
Gordana Milutinovic, Roswitha Rabe, Kerstin Müller, Prof. Scott Stock Gissendanner