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23.05.2019 | IREHA | Klinikprojekte | Berolina Klinik

Rezension - Rollenqualität und psychische Gesundheit bei berufstätigen Frauen: Wie interagieren die Lebensbereiche Beruf und Familie?

- Eine explorative Studie. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 2016; 98: 80-89 und Wirtschaftspsychologie 2017; 19: 51-59.

Prof. Dr. Gerhard Schmid-Ott, wissenschaftlicher Berater Berolina Klinik

Wir alle übernehmen jeden Tag bestimmte soziale Rollen in vielen unterschiedlichen Lebensbereichen: Berufstätigkeit, Haushalt, Erziehung, gesellschaftliches Engagement und Partnerschaft. Mit „Rollenqualität“ ist das subjektiv wahrgenommene Verhältnis zwischen Belastung und Anerkennung in jeder einzelnen dieser Rollen gemeint. Für erwerbstätige Personen - vor allem Frauen - in Deutschland kann es manchmal sehr schwierig sein, die verschiedenen Rollen mit ihren oft sehr unterschiedlichen Anforderungen in Einklang zu bringen. So gehen Ressourcen verloren, die für die Vermeidung einer psychischen Erkrankung oder die Gesundung nach einer Episode psychischer Instabilität notwendig wären.

In der oben aufgeführten Studie von Wolfgang Schulz und seinen Koautorinnen bzw. Koautoren wurden Risiko- und Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit im beruflichen und familiären Umfeld berufstätiger Frauen erforscht. Gegenstand der Forschung war dabei, welche Risiko- und Schutzfaktoren bei berufstätigen Frauen im beruflichen und familiären Umfeld für psychische Gesundheit bestehen und wie unterschiedlich die Rollenqualitäten von 98 gesunden und 96 psychisch erkrankten berufstätigen Frauen erlebt werden. Zur Beantwortung dieser Frage wurden erlebte Rollenqualitäten in den Bereichen „Partnerschaft", „Elternschaft", „Haushalt" und „Beruf" zwischen einer klinischen und einer „gesunden" Gruppe verglichen. Zum Einsatz kamen dabei der Fragebogen zur beruflichen Rollenqualität (FRQ-B) von Maurischat und Mittag (2004), der Fragebogen zur Rollenqualität von Elternschaft (FRQ-E) von Maurischat, Herwig, Bengel und Mittag (2005a) sowie der Fragebogen zur Rollenqualität von Partnerschaft (FRQ-P) von Maurischat, Herwig, Bengel und Mittag (2005b). Die Rollenqualität im Haushalt wurde mit dem Fragebogen zur Rollenqualität im Haushalt (FRQ-H) erhoben. Dieser wurde vom Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sportschule Köln (IQPR) in Anlehnung an FRQ-B, -P und -E konzipiert.

Außerdem fokussierte die vorliegende Studie den Zusammenhang zwischen den erlebten Rollenqualitäten im beruflichen bzw. im familiären Umfeld einerseits und der psychischen Gesundheit bei berufstätigen Frauen (BSI-53 [Franke, 2000] / SCL-K-9 [Klaghofer & Brähler, 2001]) andererseits.

Die Autorinnen und Autoren orientierten sich an der Konzeption von Gesundheit nach dem Denkmodell der Salutogenese nach Antonovsky (1987), bei dem der gesundheitliche Zustand aller Menschen - ob gesund oder krank - auf einem multidimensionalen Kontinuum zwischen den beiden Extrempolen (von minimaler bis zu maximaler Gesundheit) zu verorten ist und dann ihre Bewegungen auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu erklären sind (Faltermaier, 2005). Aus Sicht dieses Ansatzes ist es entscheidend für eine Position auf diesem Kontinuum, welche Schutz- und Risikofaktoren eine Person auf sich vereinigt und wie viele Schutzfaktoren sie bei einer Belastungssituation hinzuziehen kann. In dieser Studie wurde angenommen, dass die berufstätigen Frauen mit psychischen Erkrankungen auf einem Pol für das minimale Gesundheitsniveau liegen, während die gesunden berufstätigen Frauen auf einem gegensätzlichen Pol für das maximale Gesundheitsniveau stehen.

Ein Zusammenhang zwischen der Symptombelastung durch körperliche und psychische Symptome und der Belastung im Beruf konnte für beide Gruppen gefunden werden. Diese Korrelation fiel für die berufstätigen Frauen mit psychischen Erkrankungen jedoch stärker aus. Bei gesunden berufstätigen Frauen korrelierte die Symptombelastung außerdem mit der Belastung im Haushalt. Bei den berufstätigen Frauen mit psychischen Erkrankungen gibt es keinen Zusammenhang zwischen den Ressourcen (Zufriedenheit in Beruf, Haushalt bzw. Partnerschaft) und der Symptombelastung, bei den Gesunden hingegen existiert dieser Zusammenhang zwischen der beruflichen Zufriedenheit und den empfundenen Beeinträchtigungen. Die gesunden berufstätigen Frauen in dieser Studie schöpfen also Gesundheit aus ihren beruflichen Ressourcen im Gegensatz zu den berufstätigen Frauen mit psychischen Erkrankungen.

Diese Ergebnisse können durch die arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM, Schaarschmidt, 2009) erklärt werden. Unsere Studie zeigt, dass das auf die Erwerbstätigkeit bezogene gesundheitsfördernde Verhaltensmuster S (sog. Schonung) bei den gesunden berufstätigen Frauen in unserer Stichprobe am häufigsten gezeigt wurde und somit einen Schutzfaktor darstellt, während das arbeitsbezogene gesundheitsgefährdende Verhaltensmuster B (Burnout) bei den berufstätigen Frauen mit psychischen Erkrankungen am häufigsten auftrat und damit als Risikofaktor bezeichnet werden kann. Im Detail betrachtet zeichnen sich die gesunden berufstätigen Frauen durch einen angemessenen beruflichen Ehrgeiz, eine hohe Distanzierungsfähigkeit, eine stark offensive Problembewältigung, eine relativ große innere Ruhe bzw. Ausgeglichenheit, eine hohe Lebenszufriedenheit und ein starkes Erleben sozialer Unterstützung aus im Vergleich zu den berufstätigen Frauen mit psychischen Erkrankungen. Berufstätige Frauen mit psychischen Erkrankungen lassen sich hingegen durch eine hohe Verausgabungsbereitschaft, ein starkes Perfektionsstreben und eine hohe Resignationstendenz bei Misserfolgen charakterisieren. Insgesamt unterstützen unsere Ergebnisse die Befunde von Pirolt und Schauer (2005), welche besagen, dass Ressourcen bei berufstätigen Frauen vorliegen, wenn diese verschiedenen Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen gut koordiniert und kombiniert werden können. Auch nach Barnett und Hyde (2001) sind vielfältige Rollen eher vorteilhaft für berufstätige Frauen (und Männer), jedoch ist es entscheidend, wie die eigene Rolle in den verschiedenen Lebensbereichen erlebt wird bzw. wie gut ein Spagat zwischen diesen verschiedenen Rollen gehalten werden kann.

FAZIT für die psychosomatische Rehabiliation: Rehabilitanden müssen Strategien entwickeln, um alle ihre Lebensbereiche in ein nachhaltiges Gleichgewicht zu bringen. Dafür ist es hilfreich, jeden Tag in allen Bereichen Beziehungen und andere Ressourcen zu pflegen und eine einseitige Konzentration auf nur einen Bereich zu vermeiden.

Autoren: Wolfgang Schulz1, Min Ah Shin1, Dana Böhm2, Bettina Begerow3, Gerhard Schmid-Ott2. Rollenqualität und psychische Gesundheit bei berufstätigen Frauen: Wie interagieren die Lebensbereiche Beruf und Familie? - Eine explorative Studie. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 2016; 98: 80-89). Zweitveröffentlichung Wirtschaftspsychologie 2017; 19: 51-59.

1 Institut für Psychologie, Technische Universität Braunschweig
2 Institut für Innovative Rehabilitation, Klinikmanagement und Stressmedizin (IREHA) der Lielje Gruppe in Löhne bei Bad Oeynhausen
3 Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, Gütersloh


Literatur
Antonovsky, A. (1987). Unraveling the Mystery of Health - How People Manage Stress and Stay Well. San Francisco: Jossey-Bass Publishers. (Deutsche Ausgabe: Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT-Verlag).

Barnett, R. C. & Hyde, J. S. (2001). Women, men, work, and family. American Psychologist, 56, 781-796.
Faltermaier, T. (2005). Gesundheitspsychologie (1. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Franke, G. H. (2000). BSI - Brief Symptom Inventory von L. R. Derogatis. Göttingen: Hogrefe.

Klaghofer, R. & Brähler, E. (2001). Konstruktion und teststatistische Prüfung einer Kurzform der SCL-90-R. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 49, 115-124.

Maurischat, C. & Mittag, O. (2004). Erfassung der beruflichen Rollenqualität und ihre prognostische Bedeutung für die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit. Rehabilitation, 43 (1), 1-9.

Maurischat, C., Herwig, J. E., Bengel, J. & Mittag, O. (2005a). FRQ-E - Fragebogen zur Rollenqualität von Elternschaft (Fragebogen zur elterlichen Rollenqualität). Tests Info. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation, 68, 76-83.

Maurischat, C., Herwig, J. E., Bengel, J. & Mittag, O. (2005b). FRQ-P - Fragebogen zur Rollenqualität von Partnerschaft. Tests Info. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation, 68, 76-83.

Pirolt, E. & Schauer, G. (2005). Gender Mainstreaming in der betrieblichen Gesundheitsförderung. ppm forschung + beratung: Linz.

Schaarschmidt, U. (2009). Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM) — ein Verfahren zur Diagnostik gesundheitsrelevanter Auswirkungen der beruflichen Tätigkeit. In A. Hillert, W. Müller-Fahrnow & F. M. Radoschewski (Hrsg.), Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (S. 114-120). Köln: Deutscher Ärzte-Verlag.


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