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01.12.2019 | IREHA | Klinikprojekte

DE-RENA: Nachsorge per App für Menschen mit Depressionen

Prof. Scott Stock Gissendanner, Wissenschaftler im Ärztl. Dienst Berolina Klinik

Die sozialmedizinische Bedeutung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen wie z. B. Depressionen ist beträchtlich. Zwischen 1997 und 2016 stiegen die psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland um 230 % (DAK 2017). Im Jahr 2012 rückten sie in ihrer Bedeutung für den Krankenstand erstmals an zweite Stelle hinter die Muskel-Skelett-Erkrankungen auf, um dann im Jahr 2016 ein neues Rekordniveau von 17,1 % der Ausfalltage zu erreichen (ebd.).

Die psychosomatische Rehabilitation ist nach bisherigem Forschungsstand effektiv in Bezug auf die berufliche Wiedereingliederung nach psychischer Erkrankung (Petermann & Koch 2009; Zielke 2015). Wesentlich für ihren Erfolg ist die Befähigung der Rehabilitanden, ihre eigene Gesundheit zu schützen und neue, in der Klinik erlernte Verhaltensmuster später im Berufs- und Familienleben beizubehalten. Die in einer psychosomatischen Rehabilitation angewandten Therapieansätze müssen demzufolge nach dem Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik eigenständig fortgeführt werden, um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten.

Je nach Erkrankung und Ressourcen ist die zeitlich begrenzte Rehabilitation in einer stationären Einrichtung nicht für jeden Rehabilitanden ausreichend, um den Behandlungserfolg zu stabilisieren. Mit diesem Problem im Blick ist von der Deutschen Rentenversicherung Bund ein neues Rahmenkonzept zur Nachsorge entwickelt worden (Deutsche Rentenversicherung Bund 2018), das erstmals auch die Verwendung telematisch assistierter Reha-Nachsorgeangebote („Tele-Nachsorge“) möglich macht.

Angebote der Rehabilitationsnachsorge gibt es schon lange (Kobelt et al. 2004). Konventionelle Nachsorgeangebote wie z. B. IRENA (Intensivierte Rehabilitationsnachsorge, Deutsche Rentenversicherung Bund 2011) und Psy-RENA (Deutsche Rentenversicherung Bund 2018) werden ortsgebunden als Gruppentherapie durchgeführt. Die Teilnahme an diesem nachgewiesen wirksamen Format kann jedoch ein Problem für Rehabilitanden darstellen, die weit von einem Angebot entfernt wohnen, Einzelgespräche bevorzugen, im Schichtdienst arbeiten oder Stigmatisierung befürchten (Kobelt et al. 2004). Durch die individualisierte Betreuung sowie die Orts- und Zeitungebundenheit von Tele-Nachsorge, die schon in der Rehabilitationseinrichtung eingeführt und geübt wird, können diese Hindernisse überwunden werden. Die Tele-Nachsorge kann so die Lücke in der Inanspruchnahme von Nachsorgeangeboten teilweise schließen (Kobelt 2015).

Die erste Pilottestung einer umfassenden Plattform für eine Nachsorge nach rehabilitativer Behandlung bei Depressionen fand in einer Arbeitsgruppe der Median Klinik für Psychosomatik in Bad Dürkheim statt. In dem Projekt „eATROS“ wurde durch eine randomisiert kontrollierte Studie die Akzeptanz und Wirksamkeit eines Tele-Nachsorgeangebots nachgewiesen (Bischoff & Schmädeke 2014; Bischoff, Schmädeke & Fuchsloch 2014). DE-RENA ist die Weiterentwicklung der Smartphone-App, die für das eATROS-Projekt eingesetzt wurde.

Sie ist für Rehabilitanden mit depressiven Symptomen bzw. Störungen zu nutzen. Der Einsatz der DE-RENA-App hilft den Rehabilitanden, die Balance ihrer Tätigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen über Tage und Wochen kontinuierlich zu verfolgen. Die Rehabilitanden werden zusätzlich durch eine/n Psychotherapeutin/-en ihrer Reha-Klinik telefonisch unterstützt. Die theoretische Basis der App sind Erkenntnisse der kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie und Konzepte der Motivations- und Volitionspsychologie (Bischoff & Schmädeke 2014; Gollwitzer & Oettingen 2000). Das DE-RENA-Konzept basiert insbesondere auf dem gesundheitspsychologischen Modell „Health Action Process Approach“ (HAPA) von Schwarzer (2008) und fokussiert Selbstmanagementkompetenzen und Selbstwirksamkeitserwartungen. Die Anwendung wurde wissenschaftlich begleitet und ihre Wirksamkeit in dem Abschlussbericht des Evaluationsprojekts dokumentiert. Eine Zusammenfassung des Berichts wird voraussichtlich 2020 veröffentlicht. Bis dahin können interessierte Leser*innen Herrn Dr. Dieter Olbrich (d.olbrichDYXVKEJIgusi-akademieCZYWLFKJde) um die Langfassung des Berichtes bitten.

Die DE-RENA-Nachsorge schließt sich an die Therapien in der stationären Behandlung an und unterstützt deren Vergegenwärtigung im Alltag nach der Entlassung aus der Rehabilitation. Die Teilnehmer werden sowohl in der Motivations- als auch in der Volitionsphase ihres Gesundheitsverhaltens unterstützt, indem sie Alltagstätigkeiten planen und dann die Umsetzung dokumentieren. Die errungenen Erfolge werden ihnen durch die App verdeutlicht und durch den persönlichen Kontakt mit einem Therapeuten in der Rehabilitationseinrichtung positiv hervorgehoben. Ein eventueller Rückfall in eine Depression ist durch die regelmäßige Selbstbewertung frühzeitig leicht erkennbar, sodass die Teilnehmer schneller selbstinitiativ reagieren können. Falls sie nicht reagieren, nimmt der Nachsorgecoach, der den Verlauf der Werte in einem passwortgeschützten Monitoringprogramm auf seinem Rechner sieht, telefonisch Kontakt zu ihnen auf.

Darüber hinaus fordert die DE-RENA-App dazu auf, bei der Planung der alltäglichen Aktivitäten eine Bilanz zwischen Erwerbstätigkeit und anderen zentralen Lebensbereichen aufrechtzuerhalten. Hinter diesem Aspekt der App steht der Gedanke, dass Menschen viele Handlungen in verschiedenen Lebensbereichen wie z. B. Erwerbstätigkeit, Kinder, Bewegung, Entspannung und Partnerschaft täglich miteinander in Einklang bringen müssen. Diejenigen, die Ressourcen aus mehr als einem Lebensbereich schöpfen (populärwissenschaftlich unter dem Begriff der „Work-Life-Balance“ bekannt), sind jedoch tendenziell zufriedener, resilienter und psychisch gesünder (Schmid-Ott et al. 2017).

Nachdem telemedizinische Behandlungsansätze in der somatischen Akutmedizin (Helms et al. 2019) und Orthopädie zunehmend Anwendung finden, stellt die Reha-Nachsorge mit der DE-RENA-App einen sinnvollen entsprechenden Ansatz in der psychosomatischen Medizin dar. DE-RENA-Leistungen werden ab Januar 2020 als Regelleistung abrechenbar. Die Berolina Klinik wird die Tele-Reha-Nachsorge mit der DE-RENA-App als alternatives Nachsorgeangebot in Ergänzung zu unserer örtlichen gruppentherapeutischen Reha-Nachsorge einführen. Mit diesem Schritt dehnen wir die Möglichkeiten einer kontinuierlichen Betreuung unserer Rehabilitanden auf bis zu sechs Monate nach Ende des stationären Aufenthalts mit dem Ziel einer Verstetigung des stationären Behandlungserfolgs aus.


Literatur
Bischoff, C. & Schmädeke, S. (2014). Wirksamkeit Smartphone-gestützter Reha-Nachsorge (eATROS) für Patienten mit affektiven Störungen nach stationärer psychosomatischer Rehabilitation. In DRV Bund (Hrsg.), Tagungsband zum 23. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium „Arbeit – Gesundheit – Rehabilitation“ in Karlsruhe. DRV-Schriften Band 103 (S. 273-275). Berlin.

Bischoff, C., Schmädeke, S. & Fuchsloch, L. (2014). Akzeptanz Smartphone-gestützter Rehabilitationsnachsorge bei depressiven Patienten. Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin, 35 (4), S. 316-333.

DAK. (2017). Gesundheitsreport 2017. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Hamburg: DAK-Gesundheit.

Deutsche Rentenversicherung Bund. (2018). Rahmenkonzept zur Nachsorge für medizinische Rehabilitation nach § 15 SGB VI. Stand: Juni 2015 (in der Fassung vom 2. Januar 2018). Berlin: DRV Bund.

Deutsche Rentenversicherung Bund. (2011). Rahmenkonzeption Intensivierte Rehabilitations-Nachsorge "IRENA" inklusive "Curriculum Hannover". Berlin: Deutsche Rentenversicherung Bund.

Gollwitzer, P. M., Oettingen, G. (2000). The emergence and implementation of health goals. In P. Norman, C. Abramam & M. Conner (Hrsg.), Understanding and changing health behaviour. From self beliefs to self regulation (S. 229-260). Amsterdam: Harwood.

Helms, T. M., Stockburger, M., Köhler, F., Leonhardt, V., Müller, A., Rybak, K. (2019). Grundlegende Strukturmerkmale eines kardiologischen Telemedizinzentrums für Patienten mit Herzinsuffizienz und implantierten Devices, Herzrhythmusstörungen und erhöhtem Risiko für den plötzlichen Herztod. Empfehlungen der Arbeitsgruppe 33 Telemonitoring in der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, Herz- und Kreislaufforschung e. V. Herzschrittmachertherapie + Elektrophysiologie, 30, S. 136-142.

Kobelt, A. (2015). Nachsorge. In G. Schmid-Ott, S. Wiegand-Grefe, C. Jacobi, G. Paar, R. Meermann & F. Lamprecht (Hrsg.), Rehabilitation in der Psychosomatik – Versorgungsstrukturen, Behandlungsangebote, Qualitätsmanagement (2. Auflage) (S. 380-394). Stuttgart: Schattauer Verlag.

Kobelt, A., Nickel, L., Virtus Grosch, E., Lamprecht, F. & Künsebeck, H.-W. (2004). Inanspruchnahme psychosomatischer Nachsorge nach stationärer Rehabilitation. Psychother Psych Med, 54, S. 58-64.

Petermann, F. & Koch, U. (2009). Psychosomatische Rehabilitation: Quo vadis? Rehabilitation, 48, S. 257-262.

Schmid-Ott, G., Begerow, B., Shin, M. A., Böhm, D., Stock Gissendanner, S., Schulz, W. (2017). Psychische Gesundheit trotz beruflichem Stress: Mehr als nur Work-Life-Balance. Ärztliche Psychotherapie, 12, S. 207-210.

Schwarzer, R. (2008). Modeling health behavior change: How to predict and modify the adoption and maintenance of health behaviors. Applied Psychology: An International Review, 57, S. 1-29.

Zielke, M. (2015). Kosten-Nutzen-Relation der psychosomatischen Rehabilitation aus gesundheitsökonomischer Perspektive. In G. Schmid-Ott, S. Wiegand-Grefe, C. Jacobi, G. Paar, R. Meermann & F. Lamprecht (Hrsg.), Rehabilitation in der Psychosomatik – Versorgungsstrukturen, Behandlungsangebote, Qualitätsmanagement (2. Auflage) (S. 493-546). Stuttgart: Schattauer Verlag.

 

 


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