Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen stieg in Deutschland zwischen 1997 und 2019 um mehr als 300% [1]. Längst haben Versicherungen und Betriebe die Wichtigkeit dieses Trends erkannt und mehrere Strategien entwickelt, die psychische Gesundheit berufstätiger Menschen im betrieblichen Kontext zu stärken. Einige Betriebe gehen Kooperationen mit psychotherapeutischem Fachpersonal in Form einer „psychosomatischen Sprechstunde" ein, um ihren Beschäftigten zeitnah und unkompliziert psychotherapeutische Hilfeleistungen bereitzustellen.
Die Burghof-Klinik in Rinteln bietet eine solche Sprechstunde seit 2016 an. Angefangen hat es mit sechs kooperierenden Betrieben, seitdem kamen jährlich weitere Betriebe hinzu. Das Angebot der Klinik ist eine externe Gesundheitsdienstleistung, die von den Betrieben bezahlt wird. Die Partnerbetriebe ermöglichen es somit ihren Beschäftigten, unter Wahrung der Anonymität gegenüber dem Betrieb bis zu fünf Gespräche mit psychotherapeutischem Fachpersonal der Klinik in Anspruch zu nehmen. Für die Teilnehmenden sind die Gespräche kostenlos.
Das IEGUS-Forschungsinstitut führte von 2017 bis 2019 im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin eine Begutachtung des Sprechstundenangebotes der Burghof-Klinik durch. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Berolina Klinik, Prof. Dr. Scott Stock Gissendanner, war Ko-Leiter der Studie. Ziel der Evaluation war es zum einen, die Praktikabilität der Sprechstunde für Betriebe zu beurteilen, und zum anderen, den wahrgenommenen Nutzen für alle Beteiligten einzuschätzen. Die Ergebnisse der Evaluation wurden 2019 veröffentlicht [2] und lassen sich wie folgt zusammenfassen.
Die Intervention: In der psychosomatischen Sprechstunde werden Gespräche mit psychologischem Fachpersonal geführt, es findet jedoch keine richtliniengeleitete psychotherapeutische Behandlung statt. Diese Gespräche stellen eine Kurzintervention mit einem Fokus auf der Erörterung unmittelbarer Probleme und der Erarbeitung kurzfristiger Lösungsstrategien dar. Die Teilnehmenden können über alle ihre Anliegen aus dem privaten sowie aus dem betrieblichen Umfeld sprechen. Obwohl bis zu fünf Gespräche möglich sind, hat es sich in der Praxis herausgestellt, dass meist weniger ausreichten, um eine adäquate Hilfeleistung zu gewähren.
Die Intervention schließt mit drei möglichen Szenarien ab: Die meisten Gespräche endeten damit, dass die Teilnehmenden keine weitere Hilfestellung wollten oder benötigten. Im Rahmen der Studie interviewte teilnehmende Personen fühlten sich gut beraten und hatten den Eindruck, dass ihnen geholfen wurde. Andere Gespräche endeten damit, dass eine reguläre Psychotherapie empfohlen wurde und die vorhandenen Möglichkeiten einer Vermittlung genutzt wurden. Wenige teilnehmende Personen wurden auf Empfehlung des Therapeuten in eine Akutklinik eingewiesen.
Die Kosten: Die Kosten pro Gespräch für die Betriebe beliefen sich auf eine Höhe, die für die Klinik in etwa kostendeckend war. Durchschnittlich nahmen pro Jahr aus jedem Betrieb ca. zwei Personen das Angebot in Anspruch. Mit durchschnittlich drei Gesprächen pro Person blieben also die Kosten für die Betriebe langfristig sehr überschaubar. Für Teilnehmende fallen grundsätzlich keine Kosten an.
Nutzen für Teilnehmende: Ein entscheidender Vorteil des Sprechstunden-Modells der Burghof-Klinik war aus Sicht der teilnehmenden Beschäftigten die schnelle Gewährung eines Erstgesprächs mit einer psychotherapeutischen Fachperson – und zwar unabhängig davon, ob in der ersten Sitzung eine Lösung gefunden wurde oder ob weitere Gespräche folgen mussten. Wichtig war der Eindruck, dass man eine/n Ansprechpartner/in hatte und dass das Problem wahrgenommen wurde.
Ein weiterer Vorteil für einige Teilnehmende der Sprechstunde war die Vermittlung einer stationären oder teilstationären Behandlung. Das war nur möglich, weil die Burghof-Klinik einen psychotherapeutischen Versorgungsauftrag für die Region hat und entsprechende Ressourcen bereithält. Bei Bedarf haben die Betreuenden der Sprechstunde auch auf regionale Angebote der psychosozialen Beratung verwiesen. Durch diese Form von Vermittlung und Vernetzung übernahm die Burghof-Klinik die Funktion eines Case-Managers an einer Schnittstelle im Versorgungssystem.
Nutzen für die Verantwortlichen im Betrieb: Für die Betriebe hatte das Angebot vier Vorteile. Erstens war das Sprechstunden-Angebot als externe Dienstleistung für sie sehr leicht umzusetzen. Zweitens konnte das Angebot gut an die Ziele, die Prozesse und die „Kultur" ihres hausinternen Gesundheitsmanagements angepasst werden. Vor dem Hintergrund des Mangels an psychotherapeutischer Betreuung im Gesundheitssystem schätzten die Betriebe drittens die Möglichkeit, durch die Sprechstunde eben diese Versorgungslücke zu überbrücken. Schließlich erwähnten mehrere Betriebe den Vorteil, dass ihr mittleres Management sowie ihre Betriebsärztinnen und -ärzte durch das Vorhandensein des Sprechstunden-Angebotes mehr Handlungssicherheit bei der Betreuung von psychisch beeinträchtigten Mitarbeitenden gewonnen hatten.
Kommentar: Eine Rolle für Rehabilitationskliniken?
Der durch die Evaluation affirmierte Nutzen für Beschäftigte und Betriebe sowie die überschaubaren betrieblichen Kosten lassen vermuten, dass sich psychosomatische Sprechstunden dieser Art weiter etablieren werden. Ihre Verbreitung wird jedoch durch den Mangel an qualifiziertem psychotherapeutischem Fachpersonal mit Erfahrung in der Durchführung von Kurzinterventionen verzögert. Ob Rehabilitationskliniken einen Beitrag zur Prävention durch eigene psychosomatische Sprechstunden für ortsnahe Betriebe leisten können, wäre als mögliche Zukunftsinnovation zu diskutieren. Für Kliniken kann es auch deshalb vorteilhaft sein, eine Sprechstunde bereitzustellen, weil dies zu langfristigen und vertrauensvollen Beziehungen mit ortsansässigen Betrieben führen kann. So entstehen punktuell weitere Kooperationsmöglichkeiten, z. B. die Wahrnehmung von GUSI®-Präventionsangeboten, siehe https://www.berolinaklinik.de/abteilungen-und-behandlungsangebote/krankheitsbilder/praevention/gusir, und die regionale Betriebsärzteschaft kann vorhandene Kenntnisse vom Nutzen und Verlauf einer medizinischen Rehabilitation vertiefen. So könnten Reha-Kliniken helfen, Schnittstellenprobleme in der Gesundheitsversorgung zu überbrücken. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Kosten (Psychotherapeutenstunden und Planungsaufwand) eines Sprechstundenangebotes meist nur knapp durch den Beitrag der Kooperationspartner gedeckt werden.
Literatur
[1] IGES Institut GmbH. 2021. Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer Erkrankungen. Entwicklungen der Jahre 1997-2019. www.dak.de/dak/download/folien-2335938