Seit 2019 widmet sich der IREHA-Rundbrief u. a. dem Schwerpunkt „Vorbeugung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen im betrieblichen Umfeld“. Anlass dazu war die Beobachtung, dass sich die Rahmenbedingungen für präventive Arbeit stetig verbesserten. Diese Entwicklung erfuhr mit dem Inkrafttreten des „Flexirentengesetzes“ im Jahr 2017 einen Höhepunkt, da Präventionsmaßnahmen somit zu einer Pflichtleistung der Rentenversicherung wurden. Eine Einführung in dieses Thema bietet der Rundbrief-Beitrag „Prävention vor Rehabilitation“
Für uns kommt es nun darauf an, die guten Rahmenbedingungen für Präventionsmaßnahmen zu nutzen, um in diesem Bereich erfolgreich zu arbeiten. Wir haben uns daher das Ziel gesetzt, mit Praktikern aus verschiedenen Bereichen der betrieblichen Prävention über bestehende Probleme, erfolgreiche Innovationen und Erfahrungen aus der Praxis zu sprechen. Was läuft gut in der Prävention? Was muss und kann noch besser gemacht werden?
Expertenbeiträge dazu gibt es bisher aus den Bereichen:
Für den nächsten Beitrag dieser Reihe konnten wir Herrn Prof. Dr. med. Detlef E. Dietrich, Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums Hildesheim, gewinnen. Prof. Dietrich ist ein erfolgreicher Pionier bei der Entwicklung neuer Ansätze zur Vorbeugung und Behandlung psychischer Erkrankungen im Betrieb. Viele seiner Initiativen befassen sich mit der Überwindung von Schnittstellen-Problemen in der frühen Versorgung psychiatrisch gefährdeter oder psychisch überbelasteter Betriebsangehöriger.
Prof. Dietrich gründete 2007 das „Bündnis gegen Depression in der Region Hannover“. Von dieser Initiative ausgehend konzipierte er eine psychologische Sprechstunde für Betriebe, um auf diesem Wege depressive Erkrankungen früher zu erkennen und Betroffene zu unterstützen. Die Umsetzung gelang in einer großen Firma in Hannover, die auch heute noch ihren Mitarbeitenden eine Sprechstunde sowie weitere Maßnahmen zur Stärkung der psychischen Gesundheit anbietet. Die Zielgruppe der Sprechstunde wurde erweitert und umfasst nun alle Mitarbeitenden mit einer erhöhten psychischen Belastung; in dieser Form wurde sie in Niedersachsen zum Vorläufermodell für zahlreiche andere Unternehmen. Parallel dazu entstanden an vielen anderen Orten in Deutschland ähnliche Maßnahmen; heute ist die Idee unter dem allgemeinen Begriff „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ bekannt [1].
Auf diesen Erfahrungen aufbauend und in neuen Funktionen als Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums in Hildesheim und später als ärztlicher Direktor der Burghof-Klinik in Rinteln suchte Prof. Dietrich nach neuen betrieblichen Partnern, um das erfolgreiche Kooperationsmodell zu etablieren und zu erweitern. In Rinteln ist es ihm mit seinen Mitarbeitenden gelungen, ein Modell für eine psychosomatische Sprechstunde für viele mittelständische Unternehmen zu entwickeln, das heute große Akzeptanz und weite Verbreitung in der Region genießt. Unter dem Oberbegriff „Gesundheitscoaching“ finden Beratungen in Form von Gesprächen zwischen einem Mitarbeitenden und einem Psychotherapeuten statt, bei kleineren Betrieben zumeist nicht im Betrieb, sondern am Standort des Psychotherapeuten. Bei Bedarf werden eine Psychotherapie oder psychosoziale Beratungsleistungen (z. B. Paarberatung oder Schuldnerberatung) empfohlen und Unterstützung bei der Inanspruchnahme gegeben. Das Angebot der Burghof-Klinik wurde in der Aufbauphase durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit wissenschaftlich begleitet [2].
Am 5. Mai 2021 sprach Dr. Scott Stock Gissendanner, Mitglied des IREHA-Rundbrief-Redaktionsteams, mit Prof. Dietrich über seine Erfahrungen und Erwartungen für die Zukunft.
Scott Stock Gissendanner: Herr Prof. Dietrich, wie beurteilen Sie den aktuellen Status quo der Prävention psychischer Erkrankungen im Betrieb? Sind die Unternehmen ausreichend aktiv? Wo gibt es Verbesserungs- oder Nachholbedarf?
Prof. Detlef Dietrich: Es ist einiges getan worden, schon allein durch die Sprechstundenangebote. Aber es gibt noch viel zu tun, und die Entwicklungen in dem Bereich sind Schwankungen ausgesetzt. Das lehrt uns die COVID-19-Pandemie. Auch innerhalb von Betrieben, die die Sprechstunde einrichten, schwankt die Intensität der Präventionsbemühungen. Für manche Betriebe ist die Sprechstunde zu Beginn der Kooperation zwar sehr präsent, später aber ebbt die Intensität der Werbungsbemühungen unter den Mitarbeitenden oft ab. In vielen Firmen gibt es eine anfängliche Teilnahme-Welle, die dann abflacht. Vielleicht nutzen manche Betriebe die Sprechstunde auch als willkommene Möglichkeit, dem gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden, Maßnahmen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen zu etablieren, verlieren aber später den Blick auf die langfristige Bedeutung für die Belegschaft.
Man könnte also den Status quo grob wie folgt bezeichnen: Es gibt heute viel mehr Wissen über die gesetzlich verankerte Notwendigkeit zu handeln, aber nicht alle Firmen sind mit ganzem Herzen dabei. Es gibt schon Betriebe, die den tieferen Sinn einer Sprechstunde und anderer Präventionsmaßnahmen durchschauen - und auch die Tatsache, dass diese langfristig, nachhaltig und aktiv beworben werden sollten. Jedoch müssen diejenigen von uns, die Präventionsarbeit in Betrieben voranbringen wollen, doch noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Viele Vorstände können die Vorteile psychischer Prävention erst dann nachvollziehen, wenn sie konkrete Erfahrungen mit eigenen Mitarbeitenden machen. Betriebsräte sind übrigens meist gleich und nachhaltig dabei und sehen den langfristigen Nutzen der Sprechstunde für den Betrieb.
Stock Gissendanner: Welche betrieblichen Präventionsmaßnahmen halten Sie für besonders effektiv?
Prof. Dietrich: Generell, also für alle Betriebe, kann ich das nicht beurteilen. Ich weiß aber, dass nicht alles, was für die psychische Gesundheit gut ist, durch Betriebe erfolgreich gestärkt werden kann. Betriebliche Sportangebote zum Beispiel werden zu oft nicht genutzt. Meine Erfahrung zeigt aber durchaus, dass die psychosomatische Sprechstunde verhältnismäßig effektiv ist und viel bringt, wenn sie konsequent genutzt wird. Freilich muss die Sprechstunde von anderen Qualitäten im Betrieb flankiert werden. Zu wünschen sind ein fürsorglicher Führungsstil der Vorgesetzten, Offenheit in Bezug auf das Thema psychische Erkrankungen, offene Ohren und Augen für die betroffenen Mitarbeitenden, sozial kompetente HR-Manager und ein kollegiales Verhältnis unter den Mitarbeitenden. Sie sehen: Das ist ein komplexes Gefüge. Nachhaltige psychische Gesundheit hängt letztlich von vielen miteinander verwobenen Faktoren ab. Die sinnstiftende Arbeit, durch die man sich persönlich entwickeln kann, ist einer dieser Faktoren. Aber genauso wichtig ist ein gesundes privates Sozialumfeld mit gesundheitsfördernden Beziehungen in der Familie und im Freundeskreis.
Ich habe in diesem Zusammenhang eine interessante Beobachtung gemacht: Die Sprechstunde bringt einen positiven Lerneffekt mit sich. Seitdem sie angeboten und genutzt wird, sehen auch die Führungskräfte, die womöglich anfangs skeptisch waren, die positiven Effekte der Sprechstunden-betreuung in konkreten Fällen. Diese Effekte bleiben den Führungskräften - wie auch den Kolleginnen und Kollegen - nicht verborgen und führen zu einer größeren Offenheit bei der Früherkennung psychischer Erkrankungen und einer frühen Intervention bei psychischer Überbelastung.
Sehr sinnvoll und effektiv ist aus meiner Erfahrung auch die enge Kooperation der Sprechstunde mit Betriebsärzten, die oft dankbar sind, bei psychischen Beschwerden von Mitarbeitenden auf die Sprechstunde aufmerksam machen zu können.
Die Effektivität der Sprechstunde ist auch auf ihre Einbettung in die Region zurückzuführen. Damit meine ich, dass die Sprechstunden-Psychotherapeuten die psychosozialen Angebote in ihrer Region gut kennen. Es sind viele komplementäre Beratungsangebote für diese Klientel vorhanden. Durch die Sprechstunde können Teilnehmer zu dem Angebot gelotst werden, das sie gerade am meisten benötigen.
Stock Gissendanner: Sehen Sie Möglichkeiten einer besseren Zusammenarbeit zwischen psychosomatischer Rehabilitation und der akutpsychiatrischen Versorgung?
Prof. Dietrich: Das ist die bekannte Schnittstellenproblematik. In der Regel kommt eine psychosomatische Rehabilitation deutlich später. Wir sehen Menschen meist in der akuten Krise. Die Frage ist: Wie kann man die richtige Form der Unterstützung immer zur richtigen Zeit anbieten und auch die Übergänge, z. B. zwischen SGB V-Leistungen der Krankenkassen und SGB IX-Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, anleiten?
Ich würde eine häufigere Inanspruchnahme einer Tagesklinikbehandlung nach Überwindung einer psychischen Krise gern sehen. Hier könnte man bei Feststellung eines Reha-Bedarfs die Überleitung in eine ambulante psychosomatische Reha veranlassen. Das alles muss rechtzeitig angebahnt, geplant und umgesetzt werden - jemand muss sich zuständig fühlen, der sich um jeden Einzelfall kümmert. Wir sind gerade an einem Pilotprojekt beteiligt, das genau dies leisten soll [3]. Das Projekt wird durch den Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert.
Stock Gissendanner: Welche Zukunftsthemen sehen Sie für die Prävention psychischer Erkrankungen im Betrieb?
Prof. Dietrich: Einerseits erwarte ich bedeutsame Folgen der aktuellen Corona-Pandemie. Die psychischen Belastungen sind nach wie vor stark und die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Belegschaften - insbesondere im Gesundheitssektor - werden uns nach Rückgang der Inzidenzwerte noch länger begleiten. Dazu benötigen wir neue Strategien zur Förderung der psychischen Gesundheit nach der Pandemie. Zum Beispiel bringt das Arbeiten im Home-Office neue Herausforderungen für die psychische Gesundheit mit sich; in manchen Betrieben wird man neue Home-Office- und Telearbeit-Lösungen auch nach der Pandemie nutzen.
Es gibt auch Positives aus der Pandemie-Erfahrung zu berichten: Wir haben in unserer Klinik gesehen, dass die gefühlte Angst der Mitarbeitenden, am Arbeitsplatz an COVID-19 zu erkranken, mit guten Vorbeugungskonzepten deutlich reduziert werden kann. Wie man solche Konzepte entwickelt und umsetzt, ist eine positive Lektion der Pandemie und wir sind wohl durch diese Erfahrung für künftige Krisen besser gerüstet.
Unabhängig von der Pandemie ist es nach wie vor sehr wichtig, dass Betriebe für die schnelle Rückkehr und Wiedereingliederung von psychisch erkrankten Menschen offen bleiben. Ich habe leider erleben müssen, dass manche Betriebe immer noch nicht verinnerlicht haben, dass psychische Erkrankungen gut behandelbar sind. Sie steuern pessimistisch eher in Richtung Kündigung; mit ihrer starren Haltung blockieren sie so eine eigentlich machbare erfolgreiche Wiedereingliederung. Wenn aber die Wiedereingliederung mit professioneller Unterstützung erfolgt und von den flankierenden Maßnahmen und Einstellungen, die ich gerade benannt habe, begleitet wird, gelingt sie in der Regel doch zur Zufriedenheit aller. Und dann kann eine sinnstiftende Arbeit auch ein Schutzfaktor vor einer erneuten psychischen Störung sein, d. h. stabilisierend wirken!
Stock Gissendanner: Zum Abschluss der Gespräche dieser Reihe frage ich immer gern, wie mein Interviewpartner diesen Satz zu Ende formulieren würde: "Die berufsorientierte Prävention psychischer Erkrankungen funktioniert besser, wenn...?“
Prof. Dietrich: … wenn alle Beteiligten miteinander reden! Ich meine hier den Vorstand und die anderen betrieblichen Verantwortlichen, die Anbieter von Gesundheitsleistungen und Betroffene. …wenn alle wissen, was angeboten wird und was der Betrieb und die Mitarbeitenden brauchen. Zu oft sind Probleme eine Folge von Unwissenheit.
Literatur
[1] Rothermund E, Hölzer M, Wegewitz U. 2018. Die psychosomatische Sprechstunde im Betrieb – Angebot mit Konsiliarcharakter. PiD - Psychotherapie im Dialog; 19 (03): 50-54.
[2] Stock Gissendanner S, Weiß C, Herten B, Wrage W, Stegmann R, Dietrich DE, Stark H, Krähnke U. 2019. Eine psychosomatische Sprechstunde für die regionale betriebsnahe Versorgung. ASU Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin; 55 (1): 43-49.
[3] RTW-PIA – Intensivierte Return to Work (RTW)-Nachsorge in psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) von Versorgungskliniken. www.innovationsfonds.g-ba.de/projekte/neue-versorgungsformen/rtw-pia-intensivierte-return-to-work-rtw-nachsorge-in-psychiatrischen-institutsambulanzen-pia-von-versorgungskliniken.359