Wenn sich jemand bei der Ausführung seiner beruflichen Aufgaben das Handgelenk verstaucht oder im Verlauf des Arbeitstages einen Schwindelanfall erleidet, sind alle medizinischen und versicherungsrechtlichen Angelegenheiten der Diagnostik bzw. Therapie eindeutig geregelt: in dem einen Fall greift die gesetzliche Unfallversicherung (BG), im anderen die gesetzliche oder private Krankenkasse und in beiden Fällen findet eine Akutdiagnostik bzw. -behandlung sofort statt. Wenn aber chronische Beschwerden, denen noch kein Krankheitswert zugestanden wird (z. B. Burnout), oder Symptome einer psychischen Erkrankung die Ausführung beruflicher Aufgaben behindern, sind die entsprechenden Zuständigkeiten und Behandlungswege oft unklar.
Die Verantwortung für das Erkennen und die Behandlung unspezifischer Beschwerden im Kontext psychosozialer Belastungen oder chronischer psychischer Symptome ist auf viele Zuständigkeitsbereiche im Versorgungssystem verteilt: Betriebsärzte, Hausärzte, ambulante Psychotherapie, Prävention, kurative Behandlung im Auftrag der Krankenkassen sowie Rehabilitation durch Berufsgenossenschaften, Krankenkassen und - am häufigsten - die Deutsche Rentenversicherung. In der letzten Ausgabe unseres Rundbriefes haben wir in dem Beitrag „Prävention vor Rehabilitation“ darüber berichtet, dass in den letzten Jahren aus praktisch allen Bereichen eine deutlich verstärkte Forderung nach frühzeitiger Prävention bei unspezifischen Beschwerden („erste gesundheitliche Beeinträchtigungen“) und chronifizierten psychischen Erkrankungen berufstätiger Menschen zu verzeichnen ist. Auch die finanziellen Mittel für diesen Zweck wurden aufgestockt. Die Rahmenbedingungen sind heute besser als je zuvor, es gibt ein Präventionsgesetz und eine Nationale Präventionskonferenz. Nun aber, so schrieben wir, „kommt es darauf an, effektive und kostengerechte Präventionsmaßnahmen für Beschäftigte zu entwickeln“.
Zu diesem Thema geht es in der aktuellen Ausgabe unseres IREHA-Rundbriefes mit Interviews mit Experten aus den betroffenen Versorgungsbereichen weiter. Wir stellen ihnen die Frage: „Was muss aus Ihrer Sicht stattfinden, damit die Prävention psychischer Erkrankungen im beruflichen Umfeld besser greift?“ Unser erster Interviewpartner ist Herr Dr. Dieter Olbrich, ärztlicher Leiter der GUSI®-Akademie. Herr Olbrich ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Neurologie und Psychiatrie. Er führt die Zusatzbezeichnungen Sozialmedizin und Rehabilitationswesen. Bis Juni 2019 war er ärztlicher Direktor des Rehabilitationszentrums Bad Salzuflen. Dort entwickelte er im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Bund 2008 das GUSI®-Präventionsprogramm, das seit 2009 regelhaft angeboten und durchgeführt wird, siehe hierzu den Rundbriefbeitrag in der aktuellen Ausgabe.
Das Gespräch fand am 28. April 2020 statt und wurde durch Herrn Prof. Stock Gissendanner, Mitglied des IREHA-Rundbrief-Redaktionsteams, geführt.
Prof. Stock Gissendanner: Herr Olbrich, wie sehen Sie den aktuellen Status quo der Prävention psychischer Erkrankungen und was ist dabei von besonderer Bedeutung?
Dr. Olbrich: Bei Präventionsleistungen sollte man beachten, dass diese sich an Beschäftigte mit ersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen richten, bei denen ohne entsprechende Interventionen eine psychische oder psychosomatische Erkrankung auftreten kann. Präventionsleistungen werden von unterschiedlichen Trägern der Sozialversicherung geleistet und sind unterschiedlich gesetzlich im Rahmen des Sozialgesetzbuches (SGB) geregelt. Präventionsleistungen werden durch die Rentenversicherung im Rahmen des SGB VI, durch die gewerblichen Berufsgenossenschaften im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung auf Grundlage des SGB VII und durch die Krankenkassen (SGB V) erbracht. Aus diesem Grunde gibt es verschiedene Rahmenbedingungen. Diese Unterschiede sind nicht nur inhaltlich von erheblicher praktischer Bedeutung für Leistungserbringer und Leistungsempfänger. Ein zentraler Unterschied liegt zum Beispiel darin, dass Leistungen der Krankenversicherung keiner vorherigen ärztlichen Untersuchung, keiner Antragstellung und keiner Bewilligung bedürfen. Deshalb sind sie mehrwertsteuerpflichtig. Präventive Leistungen der Rentenversicherung sind dagegen wie medizinische Leistungen zur Rehabilitation zu betrachten. Es bedarf einer Antragstellung durch den Versicherten, eines ärztlichen Befundberichtes und der Prüfung durch die DRV. Nur wenn die fachlichen Voraussetzungen gegeben sind, wird eine Präventionsleistung bewilligt. Deswegen sind diese Leistungen von der Mehrwertsteuer befreit.
Prof. Stock Gissendanner: Sind Empfänger von Präventionsleistungen eher „Patienten“ oder „Kunden“?
Dr. Olbrich: Weder noch. Der Begriff „Nutzer“ trifft den tatsächlichen Status besser, da es sich um Personen handelt, die noch nicht krank sind, aber ein Risikoprofil für Krankheiten erkennen lassen. Es bedarf „erster gesundheitlicher Beeinträchtigungen“ – so der Gesetzestext. Strukturell sind sie Versicherte der DRV, aber eben keine Patienten oder Rehabilitanden. In diesem Falle bedürften sie ja einer Behandlung. Von großer Bedeutung ist deshalb, dass die Indikation für präventive Leistungen sorgfältig von qualifizierten Rehabilitationsmedizinern bzw. Psychologen gestellt wird, um sicherzustellen, dass Versicherte das richtige Angebot bekommen; Prävention – oder im Falle einer Erkrankung eben Rehabilitation. Dazu ist seitens der Rentenversicherung ein hoher Qualitätsstandard nötig. Krankenkassen erbringen Präventionsleistungen ohne ärztliche Diagnostik als allgemeine gesundheitsfördernde Maßnahmen wie Kurse im Fitnessstudio oder auch online Information und Edukation. Präventionsleistungen der Rentenversicherung sollten dagegen spezifisch für bestimmte Zielgruppen entwickelt und beschrieben werden. Im besten Falle sollten sie auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Leider ist das bis jetzt nicht die Regel.
Prof. Stock Gissendanner: Welche sind die wichtigsten Themen für die Zukunft?
Dr. Olbrich: Ein wichtiges Thema ist Qualitätssicherung. In Zukunft muss das Qualitätssicherungssystem der Rentenversicherung auf die präventiven Leistungen ausgeweitet werden. Die Rentenversicherung hat damit begonnen. Präventionsangebote sind mit der Verabschiedung des „Flexirentengesetzes“ seit dem 01.01.2017 Pflichtleistungen der Rentenversicherung vergleichbar der medizinischen Rehabilitation. Da sollten Daten zu Struktur, Prozess- und Ergebnisqualität selbstverständlich eingefordert werden, damit erkennbar wird, für wen welches Angebot geeignet ist. So wie es nicht „die eine Rehabilitation“ gibt, gibt es auch nicht „die eine Prävention“. Hier steht die Rentenversicherung am Anfang eines längeren Prozesses.
Prof. Stock Gissendanner: Präventionsleistungen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) wie GUSI® haben einen bestimmten Ablauf und eine definierte Struktur. Nach der „Initialphase“, die entweder ambulant oder in einer Reha-Klinik erbracht wird, folgen eine mehrwöchige Trainingsphase und ein „Refresher“-Tag oder -Wochenende zum Abschluss. Bedeutet Qualitätssicherung, dass präventive Leistungen der Rentenversicherung vereinheitlicht werden?
Dr. Olbrich: Der von Ihnen skizzierte formale Ablauf und die Qualitätsanforderungen sollten einheitlich sein, natürlich nicht die Angebote. Derzeit gibt es den formalen Ablauf in zwei Modellen: einmal „ambulante wohnortnahe Präventionsangebote“ wie GUSI® und „modulare Präventionsangebote“. Bei dieser Form findet die Initialphase in einer wohnortfernen Reha-Klinik statt, die Trainingsphase hingegen in wohnortnahen ambulanten Einrichtungen, die über eine entsprechende Zulassung der DRV verfügen. So können auch Personen, die nicht in der Nähe einer Rehabilitationsklinik leben, Präventionsleistungen in Anspruch nehmen. Ein Beispiel für diese modulare Form ist „Ressourcen aktivieren - Belastungen bewältigen“ der Reha-Zentren Baden-Württemberg.
Prof. Stock Gissendanner: Was ist sonst für die Zukunft der psychischen Prävention wichtig?
Dr. Olbrich: Es geht um Vorbeugung in einem sensiblen Feld – psychische und psychosomatische Beschwerden und Krankheiten sind nach wie vor stigmatisiert, Menschen reden nicht „einfach so“ darüber. Deshalb müssen sich Rehabilitationseinrichtungen als aktive Akteure des regionalen Gesundheitswesens begreifen. Das tradierte Reha-Modell (dass Rehabilitanden zentral von der Rentenversicherung mit wenig Bezug zum Standort der Klinik einfach zugewiesen werden) taugt hierfür nicht. Rehabilitationskliniken müssen stattdessen aktiv werden und sich mit regionalen Akteuren vernetzen: Betrieben, Betriebsärzten, Kommunen, Landkreisen, Bezirken, Krankenhäusern, Forschungseinrichtungen, regionaler Presse – und ganz besonders den betroffenen Menschen („Versicherten“). Die Reha-Klinik sollte Ansprechpartner für Anfragen sein sowie gezielt Multiplikator für die Prävention der Rentenversicherung. Dazu gehören auch Veranstaltungen zum Thema Prävention mit regionalem Zielpublikum. So lernen die Akteure in der Region ihre Reha-Klinik kennen und umgekehrt können Reha-Kliniken ihre Angebote entsprechend anpassen, wenn spezifische Bedarfe in der Region erkennbar werden.
Prof. Stock Gissendanner: Gibt es auch Schwachstellen im Präventionsangebot der Rentenversicherung?
Dr. Olbrich: Das Anmelde- und Formularwesen ist zum Beispiel ein Thema. Für den Erhalt von Präventionsleistungen der Rentenversicherung sind drei Anträge notwendig: der Antrag auf medizinische Leistungen zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit (Formular G0180) mit Anlage (G0185) und einem ärztlichen Befundbericht (G0190). Das Verfahren wird über verschiedene Wege eingeleitet. Entweder organisiert der Versicherte selbst alles, d. h. man geht zum Hausarzt, bittet um einen Befundbericht und reicht den Antrag ein. Oder man wird durch einen Betriebsarzt unterstützt, der dann auch den Befundbericht schreibt und bei der Antragstellung hilft. Oder man wendet sich an die Rehabilitationsklinik selbst, die Präventionsleistungen anbietet. Im besten Falle gibt es da Unterstützung, um das Antrags- und Formularwesen zu bewältigen. Die Abläufe in der Berolina Klinik sind da vorbildlich. Ein weiterer Punkt ist die Bewilligungsdauer; die Zeit bis zur Rückmeldung ist noch zu lang. Darüber hinaus müssen die Wünsche der Versicherten berücksichtigt werden: wenn jemand z. B. in der Reha-Klinik A ein Vorgespräch und Diagnostik hatte (was ja im üblichen Standardablauf der Prävention gar nicht vorgesehen ist), dann sollte auch die Bewilligung für Reha-Klinik A erfolgen – und nicht Reha-Klinik B, nur weil sie 5 km näher zum Wohnort des Versicherten liegt. Die Versicherten sollten das für sie geeignetste und natürlich auch attraktivste Angebot finden und bei fachlicher Indikation auch bewilligt bekommen. Nicht zuletzt fördert das auch die Motivation der potentiellen Nutzer – und das Durchhaltevermögen.
Prof. Stock Gissendanner: Wie würden Sie diesen Satz zu Ende formulieren: „Die berufsorientierte Prävention psychischer Erkrankungen funktioniert besser, wenn...“?
Dr. Olbrich: Wenn Reha-Anbieter endlich ihre Präventionsangebote differenziert beschreiben und unter Beachtung von Qualitätsstandards durchführen. Es sollte selbstverständlich sein, dass die Angebote so transparent beschrieben sind, dass potenzielle Teilnehmer sie verstehen und gezielt ansteuern können. Die zukünftigen Teilnehmer müssen wissen, was sie erwartet, aber auch, was sie einbringen sollten. So werden sie zu aktiven Versicherten, die wissen, was sie wollen. Das steht für Eigenverantwortung, Austausch auf Augenhöhe und fördert nachdrücklich das Selbstwirksamkeitserleben. Das gilt nicht nur für präventive Angebote bei psychischen und psychosomatischen Beschwerden, sondern auch für andere Bereiche der Rehabilitation. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Rentenversicherung auf ihrer Webseite eine differenzierte Beschreibung der Präventionsangebote anbieten würde und nicht nur „Präventionsangebote in ihrer Nähe“, die einen bestimmten zeitlichen Ablauf haben.
Für eine qualitätsgesicherte Prävention ist mehr nötig als die Form – differenzierte Inhalte, Spezifizierung und gute Indikationsstellung sind der Schlüssel für gute Ergebnisse. Hier gibt es noch viel zu tun. Der Rahmen hierzu steht – und das ist eine sehr gute Grundlage.