Die „Offensive Psychische Gesundheit" setzt sich für mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Belastungen ein


Autor: Prof. Dr. Scott Gissendanner
Wissenschaftler im Ärztlichen Dienst Berolina Klinik

Die „Offensive Psychische Gesundheit" ist eine gemeinsame Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie wird durch 40 Organisationen aus dem Bereich der Prävention mitgetragen und mitgestaltet, darunter die gesetzliche Rentenversicherung sowie private und gesetzliche Krankenkassen. Die Offensive startete am 5. Oktober 2020 und wirbt für mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Belastungen sowie die stärkere Vernetzung von Präventionsangeboten und deren Leistungserbringern. 
Diese Offensive ist sehr begrüßenswert, weil psychische Krankheiten immer noch stärker stigmatisiert werden als somatische Krankheiten. Ein weit verbreiteter Mythos ist zum Beispiel, dass die „bloße Konsultation eines Psychiaters für ernste Zweifel an der Gesundheit einer Person spricht und sie davon disqualifizieren kann, ein öffentliches Amt zu bekleiden" [1]. Zudem ist die öffentliche Wahrnehmung der „y-Wort“-Heilberufsfelder Psychologie, Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie zu einem beachtlichen Teil fehlgeleitet. Die Ursprünge und Ziele dieser Berufe werden oft nicht unterschieden, viele Menschen halten ihre Erkenntnisse für banal oder aber sie werden in den Medien stereotyp dargestellt [1]. 
Fehldeutungen, Mythen und die Verkennung der Legitimation der „y-Wort"-Heilberufe haben signifikant negative Auswirkungen für psychisch überlastete Menschen, ihre Familien und ihre Arbeitgeber. Die Angst vor negativen sozialen Konsequenzen einer Behandlung führt dazu, dass viele Patientinnen und Patienten ihre Erkrankung zu verbergen versuchen. Ihre Krankheitssymptome werden in der Folge über einen langen Zeitraum nicht professionell behandelt und verstärken sich mit der Zeit.
Vor diesem Hintergrund kann die öffentliche Medienkampagne der „Offensive Psychische Gesundheit“ helfen, indem sie für Sensibilisierung, Vernetzung und Aktivierung sorgt [2]. Die Plakatmotive [siehe https://inqa.de/DE/vernetzen/offensive-psychische-gesundheit/die-kampagne.htm] sollen deutlich machen, dass psychische Überbelastungen weder ungewöhnlich noch banal sind. Die Offensive bietet darüber hinaus eine Plattform für den Austausch zwischen Organisationen, die Unterstützung für psychisch überlastete Personen anbieten. Das zweite Dialogforum fand am 2. Juni 2021 statt und diente der Auswertung von Hunderten von Präventionsangeboten im Bereich psychische Gesundheit. Die Aufzeichnung des Forums steht im Internet zur Verfügung [3]. Zudem hat die Initiative einen Leitfaden mit praktischen Tipps zur Gestaltung von Gesprächen über psychische Belastungen und Erkrankungen im persönlichen und beruflichen Umfeld entwickelt [4]. Wir halten dieses Tool für besonders wichtig, weil das offene und wiederholte Gespräch über psychische Probleme unter Kolleginnen und Kollegen, Freunden oder aber Familienmitgliedern ein wirksames Mittel gegen Stigmatisierung ist. Der Leitfaden kann dabei helfen, den richtigen Umgangston zu finden.
Die COVID-19-Krise hat die Aktualität der „Offensive Psychische Gesundheit“ noch gesteigert. Dass die Pandemie erhebliche negative psychosoziale Auswirkungen hat und auch weiterhin haben wird, ist hinreichend bekannt.
Die Resonanz zur Offensive in der Öffentlichkeit ist gut, einige Kritikpunkte sollen trotzdem nicht unerwähnt bleiben. Es wird z. B. angemahnt, die „Kampagne gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen" ersetze es nicht, „endlich für mehr Prävention in der Arbeitswelt zu sorgen" [5]. In einer Sonderauswertung der Repräsentativumfrage zum Thema „Gute Arbeit 2019" [6] wird eine hohe, wenn auch ungleich verteilte psychische Belastung in Betrieben dokumentiert. Psychische Belastungen werden aktuell insbesondere durch verkürzte Ruhezeiten, verkürzte Pausen, überlange Arbeitszeiten, Personalmangel, Arbeitsverdichtung, körperlich schwere Arbeit, ungünstige Körperhaltungen bei der Arbeit sowie geringe Wertschätzung durch Vorgesetzte verursacht. Diesen negativen Stressfaktoren sollte man „[...] nicht allein mit Aufklärung, sondern vor allem mit konsequenter Prävention" begegnen [5].
Diese Kritik hat ihre Berechtigung. Trotzdem bedeutet das Plädoyer für mehr Prävention natürlich nicht, dass man Anstrengungen zur Entstigmatisierung psychischer Krankheiten und ihrer Behandlung nicht ausdrücklich unterstützen sollte. Beide Ziele – mehr Prävention und weniger Stigmatisierung – schließen einander nicht aus. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass psychische Erkrankungen häufig vorkommen, nicht banal und genau wie somatische Krankheiten gut heilbar sind, wenn betroffene Personen rechtzeitig behandelt werden und aufgrund ihrer Krankheit keine zusätzliche soziale Belastung befürchten müssen. Außerdem setzen wir uns dafür ein, dass Maßnahmen zur Prävention psychischer Überbelastung und zur betrieblichen Integration nach psychischer Erkrankung umfassender und effektiver umgesetzt werden.
 
Literatur
[1] Schmid-Ott G, Böhm D, Süllwold R, Steinbach K, Jäger B, Stock Gissendanner S. Die Öffentlichkeit und das „y-Wort" – unnötige Angst und unberechtigte Skepsis. Ärztliche Psychotherapie 2012; 7 (3): 181-4.
[2] inqa.de/DE/vernetzen/offensive-psychische-gesundheit/uebersicht.html
[3] inqa.de/DE/vernetzen/offensive-psychische-gesundheit/opg-dialogforum/zweites-opg-dialogforum/uebersicht.html
[4] inqa.de/SharedDocs/downloads/opg-docs/opg-gespraechsleitfaden-psychische-gesundheit.pdf
[5] Sonderauswertung DGB-Index Gute Arbeit. Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt: Endlich für bessere Prävention sorgen. 05.10.2020. www.dgb.de/themen/++co++e2acc61a-12e5-11eb-8616-001a4a160123
[6] DGB. 2020. Wie die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen und ihren Gesundheitszustand bewerten. Sonderauswertung der Repräsentativumfrage zum DGB-Index Gute Arbeit 2019.

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