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20.11.2020 | Berolina Klinik | IREHA | Berolina Klinik | News | IREHA | Klinikprojekte

Zusammenfassung - Geschlechterunterschiede im Verlauf und Erfolg psychosomatischer Rehabilitation

Prof. Dr. Gerhard Schmid-Ott, wissenschaftlicher Berater Berolina Klinik
Prof. Scott Stock Gissendanner, Wissenschaftler im Ärztlichen Dienst Berolina Klinik

Nele von Hörsten1, Wolfgang Schulz1, Scott Stock Gissendanner2, Gerhard Schmid-Ott2. Geschlechterunterschiede im Verlauf und Erfolg psychosomatischer Rehabilitation. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2019; 29: 190-198.

und

Nele von Hörsten1, Wolfgang Schulz1, Scott Stock Gissendanner2, Gerhard Schmid-Ott2. Geschlechterunterschiede im Verlauf und Erfolg psychosomatischer Rehabilitation. Poster für das 28. Rehabilitationswissenschaftliche Kolloquium der Deutschen Rentenversicherung Bund, 15.-17. April 2019, Berlin.

1 Institut für Psychologie, Technische Universität Braunschweig
2 Institut für Innovative Rehabilitation, Klinikmanagement und Stressmedizin (IREHA) der Lielje Gruppe in Löhne bei Bad Oeynhausen

Autoren: Gerhard Schmid-Ott und Scott Stock Gissendanner

Obwohl die Wirksamkeit der stationären psychosomatischen Rehabilitation gut belegt ist [1], profitieren nicht alle Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im gleichen Maße von der Behandlung [2,3]. Der starke Wunsch nach einer Frühberentung, soziale Ressourcen und die Motivation zur Bearbeitung beruflicher Themen sind individuelle Merkmale, die Einfluss auf den Reha-Erfolg haben [3]. Eine zentrale und in der Forschung noch nicht beantwortete Frage ist, ob auch das Geschlecht den Reha-Erfolg systematisch beeinflusst [4]. Wenn Frauen und Männer von derselben rehabilitativen Behandlung unterschiedlich stark profitieren, müssten Rehabilitationseinrichtungen ihre Angebote für Männer und Frauen differenzierter gestalten, um diesen Unterschieden entgegenzuwirken.

In der psychosomatischen Rehabilitation gibt es bei Frauen und Männern prinzipiell unterschiedliche Krankheitsbilder [5]. Frauen sind - vermutlich aufgrund höherer Prävalenzen psychischer Störungen und genderspezifischer Divergenzen - in der psychosomatischen Rehabilitation überrepräsentiert [6]. Während Frauen mit psychischen Störungen eher zu depressiven, Angst-, Panik-, Ess- und Somatisierungsstörungen neigen, leiden psychisch erkrankte Männer eher unter Persönlichkeitsstörungen, antisozialen Störungen und Alkoholabhängigkeit [6]. Zudem scheinen Frauen durch ihre seelischen bzw. psychosomatischen Beschwerden stärker beeinträchtigt zu sein [7]. In der stationären psychosomatischen Rehabilitation profitieren Frauen auf den Skalen Depressivität, psychische Belastung und psychosoziale Gesundheit deutlicher von der Rehabilitation als Männer [2].

Aus diesen Gründen werden die Erfolgsaussichten von Frauen in der stationären psychosomatischen Rehabilitation als durchschnittlich höher eingeschätzt. Diese Vermutung sollte jedoch angesichts der Komplexität klinischer Ausgangssituationen und im Hinblick auf die Auswirkungen einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme auf die langfristige Erwerbsfähigkeit empirisch kritisch hinterfragt werden. Die Leitfragen der genannten Studie sind:

• Profitieren Frauen mehr als Männer von einer psychosomatischen Rehabilitation in Bezug auf die Verbesserung der Symptombelastung, der Resilienz, der Selbstregulationsfähigkeit, der Arbeitsmotivation und der subjektiven Prognose der Erwerbstätigkeit während der Rehabilitation?
• Verbessern Frauen ihren Erwerbsstatus zwölf Monate nach Entlassung aus der psychosomatischen Rehabilitation stärker als Männer?

Die Stichprobe bestand aus 401 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden der Abteilung für Psychosomatik der Berolina Klinik in Löhne / Bad Oeynhausen, die zu Rehabilitationsbeginn (T1), -ende (T2) sowie zwölf Monate danach (T3) befragt wurden. 71,6 % der Befragten waren Frauen, 28,4 % waren Männer. Bei der Anreise waren 57,4 % der Untersuchten arbeitsfähig und die Arbeitsfehlzeit betrug im letzten Jahr zwischen 0 und 53 Wochen (M = 14,2, SD = 14,9).

Im Ergebnis konnten in der untersuchten Stichprobe keine signifikanten Geschlechterunterschiede in Bezug auf die gemessenen Parameter im Zeitverlauf festgestellt werden. Die einzige Ausnahme war die subjektive Arbeitsmotivation. Während die Arbeitsmotivation bei Männern zu T2 sinkt und zu T3 wieder ansteigt, steigt sie bei Frauen zu T2 an und sinkt zu T3 wieder. Insgesamt betrachtet sinkt die Arbeitsmotivation zwischen Reha-Anfang und zwölf Monate nach Entlassung bei beiden Geschlechtern ab, wobei die Abnahme bei Frauen stärker ist. Männer weisen eine durchschnittlich höhere Arbeitsmotivation auf als Frauen. Die Unterschiede im Verlauf der Arbeitsmotivation könnten durch die geschlechtsspezifischen Erwartungen an die Rehabilitation verursacht werden. Eventuell wiederholt sich hier die Feststellung aus der Publikation zur Rehabilitation chronischer Rückenschmerzen [8], dass sich Frauen von der Rehabilitation Erholung vom Alltag erhoffen, während Männer eher berufsbezogene Erwartungen haben. Die berufsbezogenen Erwartungen der Männer können erst nach Abschluss des stationären Aufenthalts erfüllt werden, weshalb bei ihnen die Arbeitsmotivation erst nach dem Messzeitpunkt T2 ansteigt.

Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern insgesamt, dass die psychosomatische Rehabilitation für Frauen wie Männer in etwa gleich wirksam ist, auch in Bezug auf die langfristige Erwerbsfähigkeit. Statistisch signifikante genderspezifische Verlaufs- und Erfolgsprofile der Rehabilitanden sind aber durchaus erkennbar. Vor allem die Veränderungen der Arbeitsmotivation zeigen ein ganz unterschiedliches Muster. Aber auch die Verbesserung der Selbstregulationsfähigkeit zeigt ein genderspezifisches Muster, da die Verbesserung bei Frauen eine stärkere positive Änderung aufweist. Behandlungen und Ziele der stationären psychosomatischen Rehabilitation sollten mit Kenntnis um und Sensibilität für diese Unterschiede gestaltet werden.

[1] Steffanowski A, Löschmann C, Schmidt J, Nübling R, Wittmann, WW. (2007) Meta-Analyse der Effekte stationärer psychosomatischer Rehabilitation. Mesta-Studie. Bern: Huber.
[2] de Vries U, Petermann F, Lange M. (2011) Differenzielle Effekte stationärer psychosomatischer Rehabilitation. Phys Rehab Kur Med 21: 290-295.
[3] Oster J, Müller G, von Wietersheim J. (2009) „Wer profitiert?” – Patientenmerkmale als Erfolgsprädiktoren in der psychosomatischen Rehabilitation. Rehabilitation 48: 95-102.
[4] Stengler K, Glaesmer H, Dietrich S. (2015) Gender- und geschlechtsspezifische Aspekte in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Forschung: Eine bibliometrische Analyse. ZPPP 59: 305-310.
[5] Möller-Leimkühler AM. (2008) Depression – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern? Gynäkologe 41: 381-388.
[6] Neises M. (2007) Genderaspekte in der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie. In: Neises M, Schmid-Ott G (Hrsg). Gender, kulturelle Identität und Psychotherapie (S. 226-244). Lengerich: Papst Science Publications.
[7] Zielke M, Borgart EJ, Carls W, Herder F, Lebenhagen J, Leidig S, Limbacher K, Meermann R, Reschenberg I, Schwickerath J. (2004) Ergebnisqualität und Gesundheitsökonomie verhaltensmedizinischer Psychosomatik in der Klinik. Lengerich: Pabst Science Publishers.
[8] Deck R. (2001) Geschlechtsspezifische Aspekte in der Rehabilitation unspezifischer Rückenschmerzen. In: Worringen U, Zwingmann C (Hrsg). Rehabilitation weiblich – männlich. Juventa: Weinheim.


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