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30.05.2021 | Berolina Klinik | Berolina Klinik | News | IREHA | IREHA | Klinikprojekte

Bericht über das Online-Symposium der MigräneLiga e.V. - Teil 2 -

Prof. Dr. Gerhard Schmid-Ott, wissenschaftlicher Berater Berolina Klinik
Prof. Stock Gissendanner, Wissenschaftler im Ärztlichen Dienst, Berolina Klinik

Am Freitag, den 30.10.2020, wurde das 73. Migräne-Symposium der MigräneLiga e. V. Deutschland erstmals ausschließlich online mit einem Stream über die Plattformen “YouTube” und “Facebook live” durchgeführt. 

Im Folgenden finden Sie eine zweite kurze Zusammenfassung von drei weiteren Beiträgen des Migräne-Symposiums vom 30.10.2020 (Literatur jeweils bei den Referenten); drei Vorträge wurden bereits im IREHA-Rundbrief Nr. 2 / 2020 dargestellt, siehe https://www.berolinaklinik.de/aktuelles/meldung/bericht-ueber-das-online-symposium-der-migraeneliga-ev-teil-1/

Herr Dr. Axel Heinze, leitender Oberarzt der Schmerzklinik Kiel, referierte über das Thema „Innovative Migränetherapie – die Zukunft ist da?“. Zur Akutbehandlung der Migräne wurden danach zuletzt in den Jahren 1993 bis 2002 Triptane neu eingeführt. Jetzt erschienen 2018 bzw. 2019 drei Substanzen in Form monoklonaler Calcitonin Gene-Related Peptide- bzw. CGRP-Antikörper (Endung bei allen „-mab“ für multiclonal antibody) zur Prophylaxe der Migräne neu auf dem deutschen Markt: Erenumab (Aimovig®), Galcanezumab (Emgality®) und Fremanezumab (Ajovy®). Die Behandlung kostet nach Herrn Dr. Heinze jeweils ca. 500 € pro Monat.

Der Referent erläuterte weiter, dass das ausgeschüttete CGRP an die Blutgefäße der Hirnhaut andockt und dort eine Entzündung auslöst; die Blutgefäße entzünden bzw. erweitern sich und die Schmerzrezeptoren werden so empfindlich, dass das Pulsieren der Blutgefäße den pulsierenden Schmerz der Migräne erzeugt. Triptane hemmen die Freisetzung des CGRPs, bis sie wieder abgebaut sind. CGRP-Antikörper dagegen verbinden sich entweder direkt mit dem CGRP oder sie binden sich an die CGRP-Rezeptoren, sodass kein Entzündungs- bzw. Schmerzeffekt mehr auftreten kann. Die drei genannten CGRP-Antikörper sind für Patient*innen zugelassen, die mindestens 18 Jahre alt sind, mindestens vier Migränetage pro Monat haben und bei denen keine Überempfindlichkeit gegen die entsprechende Substanz besteht. Voraussetzung ist, dass die „Standardmedikationen“ vorher unwirksam, unverträglich oder ungeeignet waren. Medizinische Indikationen sind ein hoher Leidensdruck, eine eingeschränkte Lebensqualität und das Risiko eines Medikamentenübergebrauchs, keine Schwangerschaft bzw. Stillzeit und kein Vorliegen einer Durchblutungsstörung. Herr Dr. Heinze gab die Effektivität wie folgt an: ein Drittel der Betroffenen erlebt mindestens eine Halbierung der Migränetage, ein weiteres Drittel nimmt eine Verbesserung der Lebensqualität wahr. Beim letzten Drittel ist die Entwicklung enttäuschend. Bei Unwirksamkeit bzw. gravierenden Nebenwirkungen kann ein Wechsel zwischen den drei CGRP-Antikörpern versucht werden. Der Wirkungseintritt erfolgt in der Regel im ersten Monat, wenn nach drei Monaten keine Wirkung eingetreten ist, sollte der Abbruch der Gabe dieses Präparats erfolgen. Möglicherweise schwächt sich die Wirkung eines Präparats nach mehreren Monaten ab, das ist aber selten der Fall. Laut Leitlinie sollte nach neun bis zwölf Monaten mit der Anwendung pausiert werden. Es ist nicht vorgeschrieben, wie lange diese Pause dauern muss. Nur zum Teil ist danach eine erneute Gabe der Substanz nötig. (ZNS-)Nebenwirkungen wie Schwindel, Müdigkeit, Gewichtszunahme oder Depressionen treten, da diese monoklonalen Antikörper die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden, nicht auf, wohl aber teilweise Verstopfung bzw. Injektionsortreaktionen. Die Injektion erfolgt subcutan (in das Unterhautfettgewebe). Die Spritzen müssen gekühlt gelagert werden. Herr Dr. Heinze führte zusammenfassend aus, dass alle drei Präparate gut vergleichbar seien. Sie seien nicht für jeden hilfreich, aber wenn sie wirkten, lasse sich die Migräne damit sehr erfolgreich behandeln.

Die Psychologin (M. Sc.) Frau Sabrina Siefert von der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein beschäftigte sich mit dem Thema „Schmerzpsychotherapie bei Kopfschmerzen“. Sie betonte, dass Migräne keine psychische Erkrankung ist, aber viele Zusammenhänge durch ein biopsychosoziales Krankheitsmodell erklärt werden können. Außerdem sprach sie darüber, inwieweit Patient*innen mit einer chronischen Migräne von einem Besuch bei Psycholog*innen (bzw. Psychotherapeut*innen) profitieren können. Biologische Faktoren bestehen z. B. in einer genetisch bedingten empfindlichen zentralen Reizverarbeitung; eine Überforderung des Systems kann dann zu einer Migräneattacke führen. Soziale Wirkfaktoren können z. B. in der Konzentration auf die ausschließliche Wahrnehmung von Alltagspflichten oder auch Mehrfachbelastungen bestehen. Aber auch innere Leitsätze wie „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, welche in aller Regel in der Kindheit erlernt wurden, können in diesem Kontext problematisch sein. Hier beginnt der Übergang zu den psychischen Wirkfaktoren, zu denen z. B. auch sozialer Rückzug sowie eine problematische Stresswahrnehmung und -verarbeitung gehören.

Eine akute Migräneerkrankung wird als Schnittmenge der biologischen Veranlagung, des sozialen Wirkungsbereichs und des psychischen Wirkungsbereichs angesehen. Hier können die Betroffenen von einem Gespräch mit Psycholog*innen (bzw. Psychotherapeut*innen) profitieren. Mögliche Themen sind ein entspannterer Umgang mit der Angst vor der nächsten Attacke, zu lernen, den Tag nicht nur mit der Hilfe von Medikamenten durchzuhalten, bis die erste Pause erlaubt ist, das „schlechte Gewissen“ besser zu regulieren sowie zu hohe Ansprüche an sich selbst zu relativieren. Oft wird in diesen Gesprächen auch Schmerzakzeptanz thematisiert, d. h. die Betroffenen können lernen, sich dem Schmerz anzupassen, ohne den Eindruck zu haben, sich ihm unterwerfen zu müssen. Relevant sind aber auch Selbstwertprobleme und Schwierigkeiten, angemessen nein sagen zu können. Leitliniengerechte Verfahren zur Schmerzpsychotherapie sind u. a. systematische Entspannungsmethoden wie autogenes Training bzw. progressive Muskelentspannung nach Jacobson sowie Biofeedback und schließlich die kognitive Verhaltenstherapie. Indikationen für eine Psychotherapie stellen eine Depression, aber auch Angststörungen dar; häufig ist hier außerdem noch bedeutsam, dass die Betroffenen nicht in der Lage sind, ein befriedigendes Alltagsleben außerhalb der Berufstätigkeit zu führen.

Dr. Jan-Eric Ensslin, Facharzt für Anästhesie und spezielle Schmerztherapie von der Fächerstadt Praxis Karlsruhe, referierte über das Thema „Sporttherapie zur Vorbeugung der Migräne“. Zuerst widmete er sich der Frage, welche körperlichen Veränderungen beim Ausdauersport beobachtet werden können, nämlich Anregung der Durchblutung, Verbesserung der Sauerstoffaufnahme im Körper, Aktivierung von Stoffwechselprozessen, Unterstützung der Immunabwehr, Steigerung der Kondition und Leistungsfähigkeit. Dann stellte der Referent mehrere Hypothesen für Mechanismen vor, weswegen Ausdauersport (durchgeführt an migränefreien Tagen) hilft bzw. helfen kann: Aktivierung physiologischer Vorgänge vergleichbar mit einer Migräneattacke, nur deutlich schwächer, Ausschüttung von Hormonen, u. a. CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide), „Desensibilisierung“ bzw. Reduktion der Migräneanfälle. Eine Studie der Schmerzklinik Kiel und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft ergab nach Herrn Dr. Ensslin, dass aerobes Training die Migränetage um fast 15% und die Migräneattacken um 20% verringert. Eine schwedische Studie ergab, dass der Effekt „Reduktion der Migränetage“ durch Topiramat dem durch Ausdauersport entspricht (wobei letzterer keine bzw. ausschließlich positive Nebenwirkungen hat).

Der Referent sprach sich in diesem Zusammenhang für „weiche“ Sportarten zwei- bis dreimal pro Woche für 30 Minuten aus. „Weiche“ Sportarten sind z. B. (Nordic) Walking, Aquafit, Schwimmen, Training auf dem Crosstrainer oder Skilanglauf. Eher ungeeignet sind in diesem Zusammenhang „harte“ Sportarten wie u. a. Kampfsportarten, Tennis, Reiten, Fuß- und Handball. Zusammenfassend empfahl Herr Dr. Ensslin medikamentöse Therapie und Prophylaxe in Kombination mit einer Sporttherapie wie oben beschrieben. 


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